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Ist die modernen Kunst in der Krise?

Welche Krise?

Die digitale Revolution hat sich mit einer Schnelligkeit, Brutalität, Ganzheit und zugleich in einer Heimlichkeit durchgesetzt, wie keine andere menschliche Revolution zuvor. Sie entwickelt sich schneller als die Ideen. Sie manifestiert sich gleichzeitig im scharfen Gegensatz zur aktuellen Krise in der Kunst, deren kraftlose und unsicheren Kommentatoren als stotternde und inspirationslose Diskussionsteilnehmer gelten.

Das Ende der Avantgardegruppen, das Herumirren der Postmodernen und die Krise des Kunstmarktes erzeugen einen Effekt der bodenlosen Mittelmässigkeit. Die Neuheiten der Bienale von Venedig, der Documenta in Kassel und der Kunstmesse in Basel kurbeln diese Debatte über die Krise in der modernen Kunst an. In dieser Debatte denunzieren die einen die Epoche, die Kunsthochschulen, die Institionen und die Künstler als dekadent, die anderen beschuldigen den Kunstmarkt, wieder andere beschwören die neue Wichtigkeit der primitiven Künste, für die sie sich, mit guten Argumenten, entschieden haben, ein neues Museum zu bauen.

Aber, ich habe bis heute noch keine Analyse gelesen, die seriös die Soziologie und Technik in diese Diskussion einbezieht, die uns die moderne Kunst aufzwingt.

Es ist deshalb gut zu zugeben, und es ist auch gleichzeitig kein negatives Urteil:

digital oder traditionel, die Kunst entdeckt wieder das Handwerk, die alte Qualität.

Glücklicherweise wird ununterbrochen jede Menge Kunst produziert, und manchmal auch sehr interessante, aber der Wind dreht sich.

Die Krise der Avantgardeideologien am Ende der Siebziger ist das Zeichen des Ende einer grossen Epoche, wo jeder Künstler, bekannt oder nicht, behauptete eine neue Seite im Buch der grossartigen und heldenhaften Geschichte der Kunst aufzuschlagen. Die heutige moderne Kunst produziert aber nicht mehr als eine kleine bescheidene kronologische Geschichte des Kunsthandwerks.

Die elektronische Kunst entwickelte eine ganz neue Konzeption der Kunst: in der Ästhetik, in ihrem Status, ihren Signaturen, ihrer Verbreitung, dabei verhält sie sich aber gleichzeitig auch wie ein neues Handwerk. Trotzdem kann sie aber ihre Werke nicht mehr aufbewahren, im Gegensatz zur traditionellen Kunst.

Die Objekte der modernen Kunst, die ich als "objets de charme archaïques" (Werke von altertümlicher Anmut) definiere, um sie zu unterscheiden von der "digitalen Kunst" sind eventuel ausserordentliche würdevolle Kuriositäten, die durch die Sammler konserviert werden sollten.

Wichtige Werke vor den Achtzigern verdienen darum heute unsere grösste Aufmerksamkeit, weil sie einmalig sind, und das Ende einer grossen Epoche bezeugen. Sie müssen in den Museen konserviert und gepflegt werden, da es, in unserer sich schnell verändernden Welt, immer schwerer und komplizierter wird, die Erinnerungen an Vergangenes zu bewahren.

Heutzutage erinnert sich die aktuelle Kunst wieder an die Tradition der Schönen Künste und entdeckt erneut, zu unserem Vergnügen, den Scharm des Handwerks.

Sie beruft sich nicht mehr auf die "Neuigkeit" als Prinzip ihres Wertes und Legitimität. Von heute an zählt die Orginalität mehr.

Die ideologische Verirrung einer Kunst, die glaubte, sich mit dem Zeitalter von Prometheus messen zu können, einer "avant-gardiste" Kunst war ohne Dauer, ein kurzer Moment interlektueller Aufregung, leidenschaftlich aber kurzlebig, nur ein und einhalb Jahrhundert lang.

Sie erscheint uns heute wie ein Unfall im Parcours der Kunst, und beschränkt auf den Occident, in den Schritten von Michelet, Saint-Simon, und der Ideologie von Geschichte und Fortschritt.

Die Ilusion von Geschichte und der Mythos des Fortschritts hatten eine kurze Karierre auf dem Feld der Kunst, und haben sich mit dem karikaturhaften und tragischen Höhepunkt der Avantgarde, die sichtbar wurde in der Verwirrung der Postmodernen, in den Achtzigern zu erkennen gegeben. Damit besiegelte sich das Ende dieser Avantgarde.

Aber wir haben uns zu erinnern, dass die Kunst der Avantgarde sich in dieser Illusion sehr stark personifiziert hatte.

Zählen wir heute die Einkünfte dieses menschlichen Abenteuers zusammen, dann sind sie sehr bescheiden.

Es ist heute klar geworden, dass diese Aufregung zusammen gebrochen ist, und das wird nun von allen als Krise der Kunst denunziert. Aber, wenn wir die Einkünfte dieser "guten alten Zeit" zusammenzählen, was bleibt .....



Von heute an leben wir unter dem Zeichen der Geschwindigkeit!

Die derzeitigen Produktionen werden geboren und sterben von nun an im Rhytmus der "temps présent" (heutige Zeit). So wie man auch von der Zeit der griechischen Hochkultur als "temps présent" spricht, aber mit einem bedeutenden Unterschied: die Ewigkeit der "temps présent" oder der "temps vertical" der Griechen oder der "temps cyclique" vieler anderen alten Gesellschaften, macht am Ende unseres Jahrhunderts einer Zeit der kurzlebigen Ereignisse Platz, sie ist eine "temps accelére" (beschleunigte/ rasende Zeit) geworden.

Diese "temps accelére" verspeist sich schnellstens, ohne eine dauerhafte Spur zu hinterlassen.

Kronos verschlingt sich selbst mit vollem Mund, ohne Atempause. Die ganze Zeit ist ein Kanibal ihrer selbst.

Das ist ebenso wahr für die digitale Kunst, deren multimedialen Techniken keine Aufbewahrung erlauben, da sie eine Asthetik der Zeit und der vielen Ereignisse begründet hat, so wie die klassische Kunst mit ihrer Ästhetik des Raumes eine dauernde Unbeweglichkeit bedeutet hat.

Provoziert durch die digitale Revolution (der erste Computer wurde vor 50 Jahren gebaut) zerstört die "temps acceléré" den Wert der Erinnerung, radiert die Geschichte aus, und erweckt darum Angst vis-à-vis der Zukunft im Vergleich zur langsamen Vergangenheit.

Die Zeitlandschaft (paysage-temps) zieht an der Windschutzscheibe wie an den Schirmen von Fernsehern und Computern vorbei, und verblasst im Rückspiegel. Diese Geschwindigkeit fasziniert, regt auf und erzeugt Angst.

Die Geschwindigkeit beeinflust die Werke der digitalen Kunst zur Gewalt oder Dramatik, aber sie erzeugt auch Nostalgie für die Vergangenheit, die Natur, die Ruhe, die Leidenschaft, die Lust und die Pause.

Alles ist mit der digitalen Revolution in Frage gestellt worden.

Geschichte ist nicht voraus zu sehen. Wir schätzen wieder eine Kultur des sich Erinnerns, um uns zu beruhigen. Zugleich geniessen wir die Vorteile der schnellen Information und des beschleunigten Konsums als Zeichen unserer neuen Erungenschaften und als positiven Aspekt der heutigen Zeit. Es ist diese Erregung und Unruhe, im Nachjagen des digitalen Abenteuers und der Erforschung dieser neuen Welt, die uns anzieht.

Als Künstler versuchen wir Meister einer neuen Ästhetik der Ereignisse, der Multimedia und der Interaktivität zu werden.

Das erfordert eine Rückkehr zur Kunst des Handwerks, und diese ist von Dauer. Sie ist auch keine Krise, wie von manchen behauptet wird. Sie ist eine Notwendigkeit, und diese paradoxe Wiederbelebung der traditionellen sozialen Funktion der Kunst ist ein Plus für die neue elektronische Zivilisation.

Die digitale Kunst markiert die Aussöhnung der Kunst mit der Gesellschaft, mit der Mittelklasse, mit den Massenmedien, mit der Vielzahl der soziallen Rituale; kurz sie wiederbelebt die Kunst mit dem Können der alten Zeit, das man "primitiv" nennt.

Die kathodischen Bilder auf unseren Bildschirmen erwecken die afrikanischen Masken. Das ist eine interaktive Kunst, spielerisch und kollektiv, die den Status der Werke der modernen Kunst zerstört. Ihr Status ist: keine sammelbare Werke mehr, dazu keine einmaligen Unterschriften (Signaturen) mehr, ferner kein Markt mehr, keine Museen mehr für diese Kunst, keine Ewigkeit mehr und keine Erinnerung mehr. Jedes Werk löst sich im Spiel der Technik auf, der sie folgt und sich verpflichtet.

Und deswegen haben die tratitionellen Kunstkritiker nichts mehr mehr mit dieser Kunst des Ereignisses zu tun, die den Systemen der festen Konzepte und der Institute entkommt.

Nachdem ich in den Siebzigern gegen die Kunst der Avantgardeeliten, der Händler, Symbol der Machtklasse, gekämpft habe, und die "soziologische-Kunst" gründete, um die Kluft zwischen Kunst und Gesellschaft zu denunzieren, habe ich mich 1983 schlussendlich entschlossen selbst keine Kunst mehr zu produzieren. Die digitale Kunst hatte die alten Probleme meines Kampfes gelöst.

Direkt von den traditionellen Kritikern der Kunst gehasst und denunziert, die gerade das Ende ihrer Avantgarde erkannten und bekannten, dominierte die neue Kunst von da an die Kunstszene und stellte alles in Frage, was in den Ideologien, Schulen und Systemen der klassischen und modernen Kunst anerkannt war. Diese ist zu Ende, und darum ist es von grossem Wert, ihrer zu gedenken.

Die digitale Revolution hat alles umgestürzt, auch die Kunst.

Wie wurde ich ein Liebhaber der digitalen Kunst?

Vor 15 Jahren gründeten Ginette Major und ich "La cité des arts et des nouvelles technologies de Montréal" und organisierten Jahr für Jahr die internationale Ausstellung "Images du Futur". Ich hatte mich mit Leib und Seele dieser Aufgabe gewidmet.

Heute ist die digitale Kunst etabliert, der Kampf ist gewonnen. Sie wird mehr und mehr vom breiten Publikum anerkannt, und sie hat sich aufgemacht unsere digitale Zivilisation zu erforschen. Sie spielt voll ihre Rolle bei der Erneuerung der Kunst mit ihrer "primitiven" Funktion in der Gesellschaft.

Sie hat sich in der Gesellschaft verwurzelt und wird sich, ohne Zweifel, in das soziale und kulturelle Leben einbinden. Dort gibt es dann keine Kunst, keine Künstler, keine Museen, keinen Markt, keine Sammler mehr, so wie in den alten Gesellschaften von Afrika und Asien. Sie hatten damals exzellente Handwerker, die im sozialen Auftrag arbeiteten, und das ist es, was die Zukunft aufs Neue bringt, viel schneller als wir glauben.

Ich habe keine persönlichen Preferenzen zu diesem Punkt, ich mache nur eine einfache soziologische Voraussage. Und es ist wahr, dass ich nicht an den Fortschritt in der Kunst glaube.

Ich glaube ausschliesslich an die soziale Natur der Kunst, die sich durch ihre primitive Funktion erneuert. Ich bin heute nicht mehr von der Kunst fasziniert, die sich "normal" nennt.

Was meine Leidenschaft in der Zukunft erweckt, und es bereits seit einiger Zeit tut - wir hatten ihr darum mehr und mehr Platz in der Ausstellung Images du Futur eingeräumt - ist die Wissenschaft.

Die grösste Vorstellungskraft, Kühnheit und Kreation finde ich im aktuellem Abenteuer der Wissenschaft.

Es ist heute notwendig die wichtige Rolle der Wissenschaft und Technik in unserer Kultur zu erkennen. Die Wissenschaft ist in Zukunft das Herz unserer Kultur und die Grenzen zwischen Kunst und Wissenschaft verwischen sich.

Die Wissenschaft und die Technik interpretieren, befragen und verändern die Welt, wie auch Literatur und Kunst. Sie verlangt sogar gleichviel oder mehr kreative Imagination - wenn man an die Erforschung des Universiums durch die Astrophysik denkt, dann erscheinen dazu im Vergleich die künstlerischen Versuchen fade und banal.

Sie trägt gleichermassen zum Schmieden unseres sozialen Bewusstsein, unseres Bild der Welt, unserer kollektiven Vorstellungen und Sensibilität bei.

Sie wird von dem gleichem Humanismus, den gleichen Mythen und Utopien, wie auch den gleichen Demonen genährt. Sie hat das XX Jahrhundert zum Jahrhundert der schlimmsten Horrors, der kriegerischten Barbarei, der industriellen Schachzüge gemacht, die die Literatur und Kunst für uns reflektieren.

Sie ist am besten, wenn man sie von den Kennern und Meistern lernt. Sie ist eine der mächtigsten Quellen für Kreationen und das menschliche Abenteuer. Die Manipulation der Gene, wie sie bei der Reproduktion von Eizellen eingesetzt wird, um unterschiedliche Organe im Foetus zu beeinflussen, die Theorien über die Geburt der Welt, oder die unbestimmten Zahlen des Big Bang, sind dies nicht schwindelerregende Kreationen und Imaginationen, wie die Erfindung der Impressionnisten oder der abstrakten Kunst?

Um die Grundlage meines Denken darzulegen: Ich wage zu sagen, dass die Wissenschaft uns viel mehr in Erstaunen versetzen wird, durch ihre Kühnheit und ihren noch unveröffentlichen Visionen, als viele Werke der zeitgenösischer Kunst.

Die Wissenschaft denkt das Unvorstellbare, die Kunst reflektiert. Die Wissenschaft schmiedet unser "mögliches Bewustsein", wie es Lucien Goldmann sagte, und die Kunst folgt.

Ich glaube, dass eine starke Dosis an Optimismus notwendig war, um im Paris von 1941 geboren zu werden. Aber, schlussendlich habe ich die grosse Chance diesen Wechsel der Zivilisation, mit den Füssen bei Gutenberg, in Tinte und Farben, den Kopf in den Wolken der digitalen Zahlen, und dazu der Taumel der schwindeleregende Wissenschaft, zu erleben. Aber wie Odyssees, ich bin misstrauisch auf allen Wegen.

Wir haben nicht zu vergessen, es existiert kein Fortschrit.

Selbst wenn er existiert, hier oder dort, in dieser Zeit oder einer anderen, es ist sehr viel klüger und kreativer nicht daran zu glauben.

Hervé Fischer


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